Sonntag ist normalerweise Ruhetag, aber nicht für uns. Wir lassen Antonia aber dennoch fünf Minuten länger schlafen und wecken sie dann sanft auf.
Das minimalistische Hotelfrühstück ist heute noch karger – egal, wir werden unterwegs schon noch was kriegen. Das Wetter ist angenehm, wolkenloser Himmel und 17 Grad, da ist perfekt zum kurzärmelig herumlaufen.
Um Punkt 10:00 Uhr betreten wir die Metrostation De Brouckère, die sich ums Eck vom Hotel befindet. Wir steigen die verdreckten Stufen zum Kassenraum hinunter und auch da schaut´s aus wie auf einer Müllhalde. Hier schlafen die Sandler noch, eingewickelt in ihre Decken und Schlafsäcke. Nach dem Erstehen der Tageskarten für 7 Euro betreten wir die Linie 5. Wir sitzen beim Fenster und können so die hübsch gestalteten U-Bahnstationen betrachten. St. Catherine zum Beispiel ist weiß gefliest mit großen, roten Tulpen drauf. Bei der Station Beekant müssen wir in die Linie 6 umsteigen und hier ist ein fleißiges Heinzelmännchen mit der Putzmaschine unterwegs. Aber das ist eine Sisyphusarbeit, denn auch hier sieht es aus wie bei den Räubern. Wir lassen unseren Blick herumschweifen und uns fallen die vielen afrikanischen Frauen auf, bekleidet in den typischen Tüchern und bunten Kleidern und hohen Turbanen. Die Mädchen sind in zuckersüße Kleidchen verpackt und tragen Glitzerschuhe. In den 1960er Jahren kamen viele Afrikaner nach Brüssel um zu studieren und bauten danach hier ihr Leben auf. Heute gibt es einen Bezirk mit vielen afrikanischen Restaurants und Geschäften.
An der Station Haizel verlassen wir die U-Bahn und schon nach wenigen Schritten kommt das über hundert Meter hohe Atomium in Sichtweite. Neun Eisen-Atome, 165 milliardenfach vergrößert sind miteinander verbunden und wurden für die Expo 58 errichtet. Das Wahrzeichen von Brüssel wurde als Symbol der friedlichen Nutzung der Kernenergie erschaffen und wiegt 2,4 Tonnen. In den 18 Meter großen Kugeln spiegeln sich die umliegenden Gebäude und Wälder. Auf einer der Kugeln grinst uns der blaue Kopf eines Schlumpfes entgegen, angebracht aufgrund des gemeinsamen 60. Geburtstages des Atomiums und der belgischen Kultfigur.
Nach der Fotosession von außen strömen wir mit den Touristenmassen zu den Kassen, aber es geht trotz allem schnell. Dann verstauen wir Taschen und Rucksack in einem Schließfach und stehen mit den Tickets in der Hand beim Einlass an. Wir werden von einer Lift-Dame in 23 Sekunden nach oben gebracht und erhalten dabei eine kurze Erklärung. Von hier oben haben wir durch die 180 Fenster einen Rundumblick auf Brüssels Mini-Europe, zur Nationalbasilika Sacré-Cœur, zum Ausstellungszentrum Palais Heysel und weit nach hinten auf die Stadt Brüssel. Wahnsinn so ein traumhaftes Panorama, der Park vor dem Atomium ist leider auch der Hitze des Sommers zum Opfer gefallen.
Die Kugeln werden mit schrägen Rohren verbunden, die mit Rolltreppen bzw. Metalltreppen überwunden werden. In den Kugeln befinden sich in den ersten beiden Levels Dauerausstellungen, wo unter anderem die Entstehung des Atomiums mit Plänen, Skizzen und Fotos zu sehen sind. Von 2004 – 2006 wurde das Atomium renoviert und dabei für rund 27 Millionen Euro die ursprüngliche Aluminiumverkleidung durch rostfreien Edelstahl ersetzt.
„Atomium meets Surrealism“ nennt sich die einjährige Ausstellung, die dem Maler René Magritte gewidmet ist. Anlässlich seines fünfzigsten Todestages wird eine Retrospektive seines Schaffens gezeigt und mit informativen Ausstellungsstücken den Titel und Aussage der einzelnen Werke erklärt. So werden den Besuchern die versteckten Botschaften des Surrealisten in den 3-D-Werken dargestellt. Beim Werk „La Clairvoyance“ (Hellsehen) wurden der Maler und das Ei am Tisch aus dem Bild genommen. Die Straßenlaterne des Bildes“ L´Empire Des Lumières“ (Das Reich der Lichter) steht in natura vor dem Bild des Hauses. „La Grande Famille“ (Die große Familie) ist der Titel seines Bildes, bei dem Magritte einen Vogel aus den Wolken hervorhebt. Hier flattern dem Besucher auf der Rolltreppe mehrere von diesem Exemplar entgegen, so als würde man gemeinsam mit ihnen fliegen. Das berühmte Werk „Le Fils de L´Homme“ (Der Menschensohn), bei dem der schwarz gekleidete Mann anstelle von Augen, Nase und Mund einen grünen Apfel im Gesicht hat, wurde auf dem Boden gespiegelt. Und hier liegen übergroße dieser grünen Äpfel als Sitzgelegenheit. Antonia, Sabine und Wolfgang have met surrealism – ja, wir sind beeindruckt von Magrittes Bildsprache und danke, dass wir in seine surreale Welt eintauchen durften. Beleuchtung und Musik lassen die Ausstellung noch dramatischer wirken.
Via Rolltreppe geht es nun wieder abwärts Richtung Ausgang und das ist nochmal ein Erlebnis, da die Röhren bunt beleuchtet sind und während der Fahrt mehrmals die Farbe wechseln.
Bevor wir das Gelände verlassen, gönnen wir uns beim fahrbaren Fritten-Stand noch Pommes, um für das nächste Highlight Mini-Europe gestärkt zu sein.
Am Fuße des Atomiums liegen auf 24.000 m² Städte, Häuser und Monumente der Europäischen Union, nachgebildet im Maßstab 1:25. Auch Menschenszenen und fahrende Züge, Lastwagen und Flieger sind installiert, sodass alles sehr lebhaft wirkt. Mit einem Führer ausgestattet – in deutscher Sprache – starten wir unseren Spaziergang durch Europa und sind schon sehr gespannt, auf was wir alles treffen.
Wir beginnen mit Skandinavien und sind beeindruckt von der imposanten Kopenhagener Börse im Renaissancestil. Antonia wird in eine Wikingerkluft gesteckt und wohlgemerkt, sie sieht super darin aus. Zwei Kurven weiter stehen wir vor dem Rathaus von Maastricht, wo der Vertrag für die Zukunft der EU aufgesetzt wurde. In Tallinn ist was los, da bewohnen die Wespen den Kanonenturm. In Brüssel kommen wir zum Grand Place und super, jetzt schaffen wir es den Platz auf ein Foto zu bringen. Er wird in den geraden Jahren Mitte August mit einem Blumenteppich bedeckt und das ist hier wunderschön dargestellt. Man muss sich das mal vorstellen, der Bau dieses Modells hat allein 372.000 Euro gekostet und 19.000 Arbeitsstunden gedauert. Aber die Mühe hat sich wirklich gelohnt. In Holland verpassen wir Wolfgang traditionelle Holzschuhe, die ihm aber ein paar Nummern zu groß sind, sie harmonieren aber farblich super zu seinem T-Shirt. Hilfe, wir haben den Belfried in Brügge geschrumpft und trotzdem ist er doppelt so groß wie Antonia und Wolfgang. Wir lassen die Waage von Alkmaar, die Häuserfront von Amsterdam und die Windmühlen von Kinderdijk hinter uns und kommen nach London. Wir könnten Antonia gleich hierlassen, denn sie wird nach diesem Urlaub nach England reisen. Sie hält gleich mal die Houses of Parliament und den Big Ben bildlich fest.
Siehe da, es gibt hier nicht nur männliche Guards, uns Mädels steht die Uniform auch ganz gut! Vorbei an der halbellipsenförmigen Häuserzeile Circus von Bath erreichen wir die Anlegestelle der Fähre Pride Of Dover, die täglich zwischen Dover und Calais verkehrt. Das Modell hier hat eine Länge von 6,8 Metern, unglaublich, da wirken sogar die echten Kois im Becken klein dagegen. Wir sind in Paris angekommen und wie im Original ragt stolz der Eiffelturm in den blauen Himmel, der jetzt den Turm und die umliegenden Gebäude erstrahlen lässt. Das Ensemble besteht aus dem Triumpfbogen, dem Centre Pompidou, dem Flughafen und auf einer Anhöhe thronend die Kirche Sacré-Cœur. Der TGV fetzt an uns vorbei und stößt dabei Pfeiflaute aus. Die nächste Kurve führt am Wasserschloss von Chenonceaux vorbei, das ich vor Ewigkeiten mal in Natura besichtigt habe. Es stammt aus dem 16. Jhdt., in der Geschichte spielten Frauen eine große Rolle und ist es das meistbesuchte Schloss Frankreichs. Gegenüber liegt das imposante Kloster El Escorial, das in den Bergen knapp fünfzig Kilometer von Madrid entfernt liegt. Hier auf dem Gelände sind der Hafen von Barcelona und die Kathedrale von Santiago de Compostela die Nachbarn. Der Bau des Modells dauerte dreizehn Arbeitsjahre eines Mannes und das ist kein Wunder bei dieser verschnörkelten Fassade. Tja, wir sind nicht nur am Ziel des Jakobsweges, sondern auch vor dem Restaurant und das werden wir jetzt mal aufsuchen. Es ist kurz nach 14:00 Uhr und wir genießen Samosa und Salat und als Nachtisch einen Joghurtdrink. Wir sitzen auf der Terrasse im Schatten mit Blick auf das echte Atomium und einen Teil der 350 kleinen Häuser und 80 Städte. Ein leichtes Lüftchen streicht uns ums Gesicht und wir gönnen unseren Füssen ein wenig Pause. Danach füllen wir noch unsere Wasserflaschen auf, machen noch einen Klobesuch und dann geht´s wieder los. Wir stapfen nach Paris zurück und biegen dort nach Sevilla ab, wo in der Arena gerade ein Torero mit einem Bullen zugange ist. Per Knopfdruck können wir ihm Anweisungen geben und daraufhin schreien die Besucher in der Arena auf. Wir reisen weiter nach Italien und auch hier können wir aktiv mitwirken, indem wir einen Ausbruch des Vesuvs auslösen und das unterirdische Beben auf einer Plattform hautnah erleben. Der 800 kg schwere Turm von Pisa wurde aus echtem Marmor gebaut, geriet gleich nach seiner Errichtung in Schieflage und muss seitdem gestützt werden.
Daneben befinden sich der Dom und das Baptisterium und rechts davon Siena mit der Piazza des Campo und dem Palazzo. Wir müssen uns nur umdrehen und schon landen wir in Venedig vor dem Dogenpalast. Dann spazieren wir den Weg weiter und kommen nach Deutschland, wo wir unter anderem nach Lübeck kommen und auf das Brandenburger Tor und die Berliner Mauer stoßen. Hier helfen wir wieder mit und betätigen den Knopf, damit die Mauer umstürzt. Ein Stück weiter befindet sich das Rathaus von Prag, ein Geschenk der Tschechischen Republik. Der Beitrag für Österreich ist nicht wie erwartet der Stephansdom, sondern das gelb—weiße Stift Melk, das hoch auf einem Felsvorsprung über der Donau liegt. „Passend“ zum Stift wird daneben, begleitet von tosenden Geräuschen, die Ariane Rakete gestartet. Direkt nebenan liegt auf dem höchsten Punkt von Athen die Akropolis, deren weißer Stein uns jetzt in der prallen Sonne richtig blendet.
So, das war´s mit Mini-Europe, das nicht nur ein Erlebnis für Kids ist, denn die vielen Knöpfe animieren auch uns kleine Kinder zum Spielen. Flüsse und Bäche und die unzähligen Bonsai-Bäume lassen die Gegend wirken wie im echten Leben. Jedes Bauwerk oder Ensemble ist versehen mit einer Tafel – darauf Name, Nationalfahne, Landesgröße, Einwohnerzahl und seit wann es Mitglied der EU ist. Beim Drücken eines Knopfes wird die Nationalhymne abgespielt. Wirklich super gemacht und sehr empfehlenswert.
Um 16:00 Uhr sitzen wir wieder in der Metro und an der Haltestelle Simonis hüpfen wir raus, um in den T19 umzusteigen. Unser Ziel ist die Nationalbasilika Sacré-Cœur, die auf einem Hügel liegt.
Erbaut wurde sie von 1905 – 1970 im Art déco Stil und zählt zu den größten Kirchen der Welt. Die lange Bauzeit deswegen, weil der Erste Weltkrieg dazwischenkam und auch Geldnöte einen Stillstand verursachten. Außen wirkt sie eher wie eine Burg mit schönen, grünen Kuppeln. Umgeben ist die Basilika von einem großzügigen Park, dessen Rasen aber aufgrund des trockenen Sommers komplett verdorrt ist. Trotzdem hängen viele Jugendliche herum, chillen oder spielen mit ihren Hunden Fußball. Wir schlendern einmal um das Gebäude herum und betreten ehrfürchtig den Innenraum. Das Hauptschiff hat eine Länge von 141 Metern und am zentralen Punkt können wir auf die Kuppel hochblicken mit ihren 33 Metern Durchmesser. Irgendwie haben wir nicht das Gefühl, uns in einer Kirche zu befinden, es schaut hier etwas anders aus, leer und nicht überladen. Anstelle von schweren Sitzbänken, stehen unendlich viele normale Stühle herum, es finden hier anscheinend bis zu zweitausend Menschen Platz. Uns beeindrucken auch die tollen, modernen Glasfenster, die von unterschiedlichen Künstlern gestaltet wurden. Der Hauptaltar besteht aus schwerem hellem Stein und ist dem Stil entsprechend auch sehr schlicht gehalten. Auch die Bilder des Kreuzweges sind einfache Gravuren auf Bronzeplatten, sehr schön. Im Inneren der Basilika befinden sich außerdem zwei religiöse Museen und eine Ausstellung über den Bau der Kirche. Etwas Kurioses fällt uns auch auf, im Keller gibt´s auch ein Restaurant. Wir finden Gefallen an dieser Kirche und könnten Stunden hier verbringen, um alles zu entdecken, aber der Tag neigt sich dem Ende und die Öffnungszeiten der Kirche auch.
Es ist kurz nach 17:00 Uhr, es hat 25 Grad und wir sind wieder mit der Metro unterwegs. Kurz verlieren wir die Orientierung und daher verlassen wir sie irgendwo und kommen beim Place Charles Rogiers ans Tageslicht. Hier befindet sich der hohe, gläserne Wolkenkratzer, der Belfius – Bruxelles Rogier Tower und wie sollte es anders sein, der gehört einer Bank. In Blickweite auch das schöne Jugendstilhotel „Hôtel Le Dôme“ mit der grünen Kuppel. Der Platz ist überdacht mit einem beeindruckenden übergroßen, gläsernen Sonnenschirm. Wow, da sind wir in einem ganz neuen, modernen Viertel gelandet. Von hier laufen wir zu Fuß weiter durch die Stadt und auf unserem Weg begegnen uns die unterschiedlichsten Aromen. Frittengeruch vermischt sich mit dem Duft von Seifen und einige Straßen weiter atmen wir den Duft von Waffeln ein. Leider strömt uns auch immer wieder der Gestank von Müll in die Nasen und hoffentlich sammelt morgen die Müllabfuhr die vielen Müllsäcke und Kartonbündel ein, die hier überall herumliegen.
So, wir erreichen bekanntes Gebiet, nämlich den Place de la Monnaie. Wo gestern noch Street-Basketball gespielt wurde, wird jetzt grad an einer Musikbühne gearbeitet. Wir stapfen weiter auf der Suche nach einem Restaurant und entscheiden uns für das „Old Wild West Steak House“ neben der Börse. Wir ergattern einen der letzten Tische im Freien, obwohl das Lokal auch innen sehr hübsch eingerichtet ist. Da sitzt man zum Beispiel in alten Planen-Wagen oder unter Zelten mitten im Indianergebiet, begleitet vom Ritt der an die Wand gemalten Indianer. Wolfgang und ich probieren das helle Leffe-Bier, das in urigen Glaskelchen serviert wird und Antonia bleibt brav beim Fruchtsaft. Zu essen bestellen wir Spare-Rips, Burger und Indiana Salad mit Steakstreifen. Das Essen macht auch auf den ersten Eindruck was her, über den Geschmack lässt sich streiten. Hauptsache, wir sind satt geworden und Nachtisch holen wir uns an einem Stand entlang der Straße. An einen der vielen Waffelbuden erstehen wir eine mit Nutella und Erdbeeren. Der Zuckerschock macht sich schon beim ersten Biss breit, dafür reicht uns eine Waffel für uns drei gemeinsam.
Auf unserem Spaziergang durch die Gassen entschließen wir uns noch für einen Absacker und dafür finden wir noch freie Platzerl vor der „Golden Bar“. Hier gibt´s noch Sex On The Beach für mich, Antonia bleibt beim Saft und ein Corne-Beer für Wolfgang, das in einem Glas-Horn serviert wird. Während wir gemütlich unsere Drinks genießen, beobachten wir die vorbeiflanierenden Menschen. Wir sind uns einig, dass es heute etwas gemütlicher abgeht und nicht herum gegröllt oder wettgesoffen wird. Mal schaun, wie lustig unsere Engländer am Nebentisch noch werden, wo jeder einzelne die Sechserpalette Degustations-Biere vor sich stehen hat.
Auf dem Weg Richtung Hotel liegt „leider“ noch ein offenes Schokogeschäft, wo uns schon von weitem eine Verkäuferin einen Teller entgegen hält mit Kostproben von in Schoko eingehüllten Nüssen. Da werden wir schwach und nehmen uns einige Macarons mit. Wir schlendern weiter und nehmen wieder die Route durch die Galerie de la Reine, aber auch heute ist es wieder zu spät und die Geschäfte haben ihre Pforten schon geschlossen.