Der gestrige Tag hat uns geschafft und daher bleiben wir länger in den Betten. Nach dem Frühstück machen wir uns auf den Weg, drehen aber schon nach wenigen Schritten wieder um, weil uns der Wind um die Ohren pfeift. Es werden wärmere Jacken angezogen und dann geht´s los.
Bei der U-Bahn-Station Maelbeek steigen wir aus und stapfen von dort zu Fuß weiter. Vorsicht auf die Radfahrer, denn die zischen mit einem Höllenzahn auf den Radstreifen daher, die auf dem Gehsteig markiert sind. Nach einer kurzen Orientierungslosigkeit finden wir schließlich den Weg ins Europa-Viertel. Mächtige Glaspaläste prägen diesen Teil der Stadt und wir haben riesen Spaß daran, wie sich unsere Körper auf runden Flächen spiegeln und langziehen. Wolfgang schaut mit seiner Brille aus wie die Fliege Puck aus dem Zeichentrickfilm Biene Maya! Toll auch die Spiegelungen der anderen Häuser in den Glasflächen gegenüber.
Überall wehen die blauen EU-Flaggen und selbst am Straßenpflaster sind immer wieder Sterne aufgemalt. Vor dem Parc Léopold beginnt der große Gebäudekomplex des Europäischen Parlaments. Die einzelnen Gebäude wurden nach Persönlichkeiten aus der europäischen Geschichte und Politik benannt, die einen Beitrag zur EU geleistet haben. Direkt vor dem Park befindet sich das ellipsenförmige Paul-Henri-Spaak Gebäude. Dieser Herr war belgischer Ministerpräsident und Außenminister und maßgeblich daran beteiligt bei der Gründung der Römischen Verträge 1957 und der Benelux-Union, daraus entwickelte sich die heutige EU. In diesem Gebäude befinden sich die Büros des Präsidenten und der Plenarsaal, wo das europäische Parlament ihre außerordentlichen Sitzungen abhält. Es wurde für eine Milliarde Euro gebaut und 1993 eröffnet. An Wochentagen kann der Plenarsaal besichtigt werden und diese Gelegenheit nutzen wir auch gleich. Ehrfürchtig betreten wir das Innere des Gebäudes, wo unsere Pässe gescannt werden und wir uns den Jacken und Taschen entledigen. Nach dem x-Ray erhalten wir einen Audioguide und werden mit dem Lift aufwärts geschickt. An der Wand des Wartebereichs hängt ein übergroßes Bild des Plenarsaals, wo die Abgeordneten gerade bei einer Abstimmung sind. Daneben befinden sich die Fahnen der 28 EU-Mitglieder, wo wir uns spontan unsere rot-weiß-rot-gestreifte heraussuchen. Auf einer Karte können wir betrachten, wie groß die EU schon geworden ist, hervorgehoben sind dabei die Länder, die aus den Kolonialstaaten entstanden sind. Dazu gehören das französische Guadeloupe, Martinique, Guyane, La Réunion und Mayotte. Für Portugal gehen die Azoren und Madeira ins Rennen und zu Spanien gehören noch die Kanaren.
Dann betreten wir den Plenarsaal auf der Besuchertribüne und lauschen dabei dem Mann im Ohr. Ganz vorne sitzt der Präsident und das Generalsekretariat, an deren linker Seite der Rat der EU und rechterhand die Europäische Kommission. Davor nehmen die Vorsitzenden und die Sprecher der Fraktionen Platz. Die Sitzordnung der Mitglieder des Europäischen Parlaments richtet sich nach der Zugehörigkeit der Fraktion, nicht nach der nationalen Delegation. Darüber befinden sich in alphabetischer Anordnung die Kabinen der Simultanübersetzer mit drei Personen in 24 Amtssprachen. Über der englischen Kabine ist eine digitale Uhr angebracht, wo auch nach einer anonymen Abstimmung das Ergebnis angezeigt wird. Eine Stunde lang erhalten wir interessante Informationen über das Gebäude, die Sitzungen und allgemein über die EU und deren Wichtigkeit. Wir verlassen den Plenarsaal wieder und im Aufenthaltsbereich dürfen wir dann noch den Angehörigen und Freunden eine Karte nach Hause schreiben.
Tief beeindruckt verlassen wir das Europäische Parlament wieder und betrachten noch das Stück Berliner Mauer, das auf dem Vorplatz ausgestellt ist. Am 09. November 2014 jährte sich der 25. Jahrestag des Falls der Berliner Mauer und das Geschenk soll ein Symbol für die Freiheit, den Frieden und die Demokratie sein.
Rund um das Gebäude parken Motorräder der Straßenpolizei, bemannt mit den Polizisten, die akribisch die Umgebung beobachten. Wir fühlen uns voll beobachtet bei jedem unserer Schritte, daher entfernen wir uns von ihnen und schlendern noch ein wenig auf der Esplanade Solidarność 1980 herum. Hier genießen wir ein wenig die Atmosphäre und betrachten die Bilder, die auf dem Skywalk angebracht sind. Ein Wahnsinn, was sich da hier für beeindruckende Gebäude befinden.
Alles Gute kommt von oben, scheiße, es beginnt zu regnen – nein, doch nicht, das ist nur das Wasser der Fensterputzer – die haben hier wirklich ausgesorgt, bei diesen unendlichen Fensterflächen.
Wir schlendern ein wenig die Straßen im EU – Gebiet herum und hier reiht sich ein architektonisch beeindruckendes Gebäude ans andere, alle mit verspiegelten Fenstern, hohe Umzäunungen oder Mauern. Vor jeder Tür ist ein Wachposten stationiert und auch auf der Straße fahren ständig Gruppen Polizeiautos oder Motorräder vorbei mit Tatü-Tata. Wir kommen zum Hauptquartier der Europäischen Kommission, das x-förmige Berlaymont. Überall wohin man schaut wehen Fahnen der EU und deren Mitgliedstaaten. Auf dem kleinen Platz davor parken Bundesheerautos und auch ein Reporter wartet mit dem Mikro in der Hand, seine Begleitung hält die Kamera parat. Wir warten mit ihm auf einer Bank daneben, aber auf was? Währenddessen betrachten wir das Gebäude mit den 3.302 Fenstern. Auf einem Banner können wir lesen, dass Österreich gerade die Präsidentschaft des Rats der Europäischen Union innehat. Plötzlich werden wieder aufheulende Autosirenen hörbar und eine Kolonne schwarze Limousinen mit Blaulicht zischt vorbei. Vorweggenommen, wir erfahren danach, dass der amerikanische Präsident Trump gerade in Brüssel weilt.
Nachdem uns das Warten keine Lust mehr macht, gehen wir weiter Richtung Parc du Cinquantenaire (Jubelpark). Davor besorgen wir uns in einem kleinen Café Sandwiches und was zu trinken. Der Plan ist, die Jause gemütlich im Park zu essen und dann dort noch eine Runde herumzuspazieren. Denkste, die Gatter zum Park sind verschlossen. Durchs Gitter können wir einen eindrucksvollen Triumphbogen mit Quadriga und breite, geradlinige Avenuen sehen. Von den Rundbögen hängen Fahnen mit dem Datum 11.07.2018 und jetzt verstehen wir, warum hier massenhaft Security unterwegs ist. Morgen und übermorgen findet in Brüssel der NATO-Gipfel statt. Tja, dann wird´s nix mit dem Picknick im Jubelpark, wir drehen um und machen noch Fotos vom Robert Schuman-Denkmal vor dem Park. Er war französischer Ministerpräsident und Mitbegründer der EU.
Wir spazieren die Rue de la Loi entlang, wo wir ständig auf patrouillierendes Bundesheer mit angelegten Waffen treffen. Gegenüber dem Berlaymont befindet sich das Résidence Palace, der Tagungsort des Europäischen Rats. Das teilweise unter Denkmalschutz stehende Gebäude wurde dem Rat vom belgischen Staat für einen symbolischen Euro überlassen. Der Umbau dauerte zehn Jahre und vereint heute eine Mischung aus alt und neu. Die Nord-Ostfassade wurde aus recycelten, unterschiedlich großen Holzfensterrahmen aus verschiedenen europäischen Ländern errichtet, schaut aus wie ein Fleckerlteppich. Die ursprünglich veranschlagten Kosten explodierten ins Immense und man schweigt darüber.
Gegenüber befindet sich der 16-stöckige Glaspalast Charlemagne, das zwischen 1971 und 1995 Sitz des Europäischen Ministerrats war, heute beherbergt es mehrere Generaldirektionen der Kommission. Vor dem Gebäude sitzen auf einer Brüstung Bronzeskulpturen, erschaffen von René Julien.
Hier gibt es einen Zugang zur Metro, wir nutzen unser Tagesticket und fahren weiter bis zur Station St. Catherine. Von hier haben wir einen schönen Blick zum Quai aux Briques mit dem Fontaine Anspach. Auf einem hohen Podest befindet sich die Darstellung des Brüssler Stadtwappens, mit dem Erzengel Michael dem Drachentöter.
Am Quai aux Briques gönnen wir uns im „Koffiehus Frederic Blondeel“ Moelleux des Amoureux, lecker Schokokuchen mit flüssigem Kern. Mmmmmh, die halbe Stunde Wartezeit lohnen sich auf jeden Fall. Wolfgang bestellt sich dazu Madagaskar Chocolat mit Lemongras und Chillipepper. Gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht. Die Pralinen des Chocolatiers haben uns beim Hereingehen schon angelacht und daher lassen wir uns noch einige als Mitbringsel für zuhause einpacken und mit einem Schlag sind wir 60 Euro los!
Ein Stück weiter kommen wir zum Place Sainte-Catherine, wo sich die Église Sainte Catherine befindet. Erbaut wurde die Kirche ursprünglich im 15. Jhdt. auf einem zugeschütteten Hafenbecken und musste mehrere Umbauten über sich ergehen lassen. Dadurch ist ein Stilmix entstanden, ständiger Geldmangel verursachte einen über zwanzig Jahre andauernden Bau und hatte zur Folge, dass billiges Baumaterial verwendet wurde. Die Fassade mit dem Hauptportal wurde bereits renoviert und leuchtet strahlend weiß. Einzig der barocke Turm stammt aus dem Jahr 1620 und hat sein Aussehen behalten. Sehenswert im Inneren ist die schwarze Madonna mit dem Kind am Arm. Wir statten ihr einen kurzen Besuch ab und sind nicht wirklich beeindruckt.
Daher setzen wir unseren Spaziergang fort bis in die Rue des Chartreux. Da begegnen wir dem Mischlingshund Zinneke Pis, der gerade bei einem Poller sein Bein hebt und hinpinkelt. Die Bronzeskulptur wurde 1998 aufgestellt und hat seinen Namen vom Fluss Zinneke (kleine Senne), der sich unterirdisch durch die Stadt schlängelt.
Es ist kurz nach 15:00 Uhr, es ist bewölkt und es hat 16 Grad, daher schmeißen wir uns wieder in die Metro. Mit der Linie 4 fahren wir Richtung Porte de Hal, von dort gehen wir ein Stück die Avenue Jean Volders entlang und kommen dann in die Rue Vanderschrick. Dort reiht sich ein tolles Haus an das andere und viele davon sind im Jugendstil erbaut. Der Architekt Ernest Blérot entwarf über siebzig Häuser und siebzehn davon sind allein in dieser Straße zu finden. Als Fan des Jugendstils bin ich natürlich hin und weg von den tollen Kunstschmiedearbeiten, Fassaden und Glasscheiben. Besonders nennenswert ist das Pfauenfenster in der Nr. 19 oder das Café La Portreuse d´Eaux auf der Nummer 25. Leider hat das Café geschlossen, ein Blick durch die Fensterscheiben lässt uns erahnen wie wunderschön es auch drinnen gewesen wäre. Auch das müssen wir uns für den nächsten Brüssel – Besuch aufheben. Ich weiß jetzt schon, dass mir die Entscheidung sehr schwerfallen wird, welche der vielen Haus-Fotos es in das Fotobuch schaffen.
Nach einer Stunde verlassen wir die Wiege des Jugendstils, steigen in Parvis de Saint Gilles wieder in die Metro und fahren bis zum Hotel zurück, wo wir ein Schäferstündchen einlegen.
Um 18:30 Uhr machen wir uns wieder auf den Weg auf der Suche nach einem Restaurant. Brüssel ist im Ausnahmezustand, denn heute Abend findet das Fußballspiel gegen Frankreich statt. Ganz Brüssel ist auf den Beinen, aus jedem Fenster hängt die Nationalflagge, in jedem Lokal läuft der Fernseher und die Menschen sind kostümiert wie im Fasching. Die verschiedensten Hüte zieren so manches Haupt, umgehängte Blumenkränze in den Nationalfarben und wer es sich einfach gemacht hat, ist eingehüllt in eine belgische Flagge. Auch die Gesichter sind bemalt.
Auf allen Plätzen gibt es Public Viewing und Musik. Wir treffen auch auf einen vierbeinigen Fan, der ein T-Shirt übergezogen und eine Sonnenbrille aufhat und mit dem Herrl Fußball spielt. In der Rue des Chartreux 7 verlieben wir uns auf den ersten Blick in die „Taverne Greenwich“, kein Wunder, diese Brasserie ist von außen bis innen im Jugendstil gestaltet. Mintgrün gestrichene Wände- und decke aus Holz mit goldenen Applikationen. Dunkle Möbel, verschnörkelte Garderobenhaken und Leuchtkörper in Kugelform. Der Nebenraum hat eine beleuchtete Glasdecke, die minütlich die Farbe wechselt. Selbst auf der Toilette setzt sich der Jugendstil fort. Das Essen schmeckt superlecker und wir fühlen uns hier richtig wohl, zumal es im Gegensatz zu draußen hier noch sehr ruhig ist.
Auf dem Weg zurück zum Hotel drehen wir noch eine extra Runde, um ein wenig von der turbulenten Stimmung aufzusaugen. Schön zu sehen, wie die Menschen gut drauf und ausgelassen sind und die Hektik des Alltags vergessen. Es wird gesungen und gegröllt und dabei fließen auch Unmengen Alkohol. Menschentrauben hängen vor den Lokalen, aber nicht, weil sie sich um Essen anstellen, sondern weil da drin der Fernseher läuft. Leider häuft sich auch der Müll auf den Straßen und auch Glasscherben könnten dem ein oder anderen noch zum Verhängnis werden. Wir ziehen es vor, nach diesem langen, ereignisreichen Tag wieder ins Hotel zurückzugehen und dort verfolgen wir dann ein wenig das Fußballspiel. Unser Daumen-Drücken hilft leider nix, denn Belgien verliert im Halbfinale mit 0:1.