Nachdem gegen Mitternacht Regen und Wind aufziehen, zeigt sich am Morgen eine dichte Wolkendecke am Himmel. Auf der gesamten Fahrtstrecke von Skei nach Sogntal plagt sich die Sonne durchzukommen. Ein Tunnel reiht sich an den anderen und einer ist dunkler als der andere. Aufgrund des hohen Verkehrsaufkommens müssen wir aber ständig das Fernlicht ausschalten, sodass wir halb blind durch die schmalen Röhren irren. Zu unserem Entsetzen ist das Überholen in den Tunnels auch noch erlaubt! Zusätzliche Gefahren stellen die vielen Schafe und Ziegen dar, die in den Tunnels gemütlich ihr Schläfchen abhalten und Schutz vor dem Wetter suchen.
Unser erstes Highlight des Tages ist die Stabkirche von Urnes. Sie ist erreichbar mit einer kleinen Autofähre, die vom 11 km nordöstlich von Sogndal gelegenen Ort Solvorn über den Lustrafjord führt. Nach einer 15minütigen Fahrt und einer kleinen Bergwertung stehen wir vor ihr! Die Stabkirche von Urnes ist die älteste Norwegens und von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen. Sie wurde zwischen 1130 und 1150 erbaut und im 17. und 18. Jhdt. erweitert. Die Schnitzereien an den Portalen sind noch unbeeinflusst von der ersten christlichen Kunstrichtung, bei der die Pflanzenornamentik mehr und mehr durch die Tierornamentik verdrängt wurde.
Mit einer Führung betreten wir das Innere der Kirche und uns bleibt – im wahrsten Sinn der Worte – der Mund offen stehen. Wir sind tief beeindruckt von der Konstruktion und dennoch teilweise schön erhaltenem Mobiliar und Gemälden. Die Säulen und Balken sind mit Schnitzereien verziert und die Kanzel und der Altarraum werden geziert mit prächtigen Malereien. Ein großer schmiedeeiserner Leuchter in Form eines Wikingerschiffes hängt von der Decke. Mit einem mindestens 20 cm großen Schlüssel wird diese Kirche versperrt, den wir uns kurz ausleihen, um ein Foto davon zu machen. Heute wird die Kirche noch für besondere Anlässe, wie Hochzeiten und Taufen, verwendet.
In einem Café genießen wir dann köstliche Waffeln mit Himbeermarmelade und sourcream, bevor wir uns auf den Rückweg machen. Kurz vor der Anlegestelle kaufen wir einem Mädchen noch eine Tasse riesige (2 cm Durchmesser) Bringebæren ab, die wir uns während der Wartezeit auf die Fähre schmecken lassen.
Nicht weit von Urnes liegt der Ort Kaupanger mit seiner gleichnamigen Stabkirche aus dem Jahr 1180. Sie ist zwar die drittälteste in Norwegen, wurde aber 1862 so gründlich renoviert, dass nicht mehr viel von ihrem ursprünglichen Charakter übrig blieb. Außen wurde sie mit einer waagrechten Vertäfelung versehen und graubraun gestrichen. Die Kaupanger Stabkirche ist fast ununterbrochen genutzt worden und dient heute noch als Distriktskirche. Aufgrund dessen, dass wir hier keine Führung bekommen und uns diese Kirche auch nicht so gut gefällt, verlassen wir die heilige Stätte schon nach kurzer Zeit und begeben uns wieder auf die Straße.
Zu unserer Freude meint es das Wetter gut mit uns, denn die Sonne setzt sich wieder durch. Es sind nur noch ein paar Schäfchenwolken übrig geblieben, als wir auf der Fahrt durch das Lærdal bis nach Borgund fahren. Hier steht, umgeben von steilen Felsen, die am besten erhaltene Stabkirche. Beim Anblick dieses Prachtstückes ist unsere Euphorie kaum zu bremsen, denn von der ersten Minute an sind wir total verzaubert von ihrer Schönheit.
Das Holz für die Kirche wurde im Winter 1180 eingeschlagen und vermutlich wurde das Gebäude unmittelbar danach errichtet. Das komplizierte Bauwerk wurde von fahrenden Handwerkergruppen erstellt, die Können und Erfahrung mitbrachten. Es gab ähnliche Kirchen auch in anderen europäischen Ländern, aber nur in Norwegen sind sie erhalten geblieben. Von den ursprünglich mindestens 1.000 Kirchen existieren heute nur noch 28.
Die Stabkirche von Borgund hat ohne größere Änderungen überlebt. Sie war 1782 fast ein Raub der Flammen geworden, als eine geistig verwirrte Frau sie in Brand steckte. Nur einem Zufall ist es zu verdanken, dass ein Bewohner aus der Umgebung genau zu diesem Zeitpunkt vorbei ging und Hilfe holen konnte. Die Kirche wurde 1877 vom Verein zur Denkmalpflege gekauft. Sie ist mit drei Schiffen, einem Chor und einer Apsis ausgestattet und um das gesamte Gebäude führt ein Svalgang herum. Das Westportal ist mit für die damalige Zeit typischen Schnitzerein reich verziert. Es zeigt drachenähnliche, im Kampf verbissene Tiere und ineinander verflochtene Rankenmotive. Die Innenausschmückung ist einfach und der Kirchenraum liegt fast im Dunkeln. An den Außenwänden wurden Sitzbänke angebracht, die Alten und Kranken vorbehalten waren. Während der Messe standen die Männer rechts nahe dem Ausgang und die Frauen auf der linken Seite – und das hatte auch seinen Grund, denn der Teufel kommt von der linken Seite und da sollten die Frauen zuerst daran glauben!
Heute ist nichts mehr von der ursprünglichen Ausstattung übrig geblieben; der Altar und die Kanzel stammen aus nachreformatischer Zeit. Auf den Außen- wie auch auf den Innenwänden gibt es mehrere Runeninschriften, die sprachhistorisch im 12. Jhdt. angesiedelt werden können.
Jede Kirche ist hier direkt umgeben vom Friedhof, der nicht so kitschig oder prunkvoll ist, wie so mancher bei uns. Da steht meist ein einfacher Stein oder ein schmiedeisernes Kreuz, eine Kerze und ein paar Blumen und alles inmitten einer Wiese. Grabeingrenzungen oder Gruften gibt es hier nicht. Die Menschen sind einfacher und bescheidener, das kann man in diesem Land immer wieder beobachten. Irgendwie hat diese Kirche etwas Magisches an sich, denn wir können gar nicht genug bekommen von diesem Kunstwerk der Vergangenheit. Wie gebannt schauen wir sie uns immer wieder an und betrachten auch die prächtigen Details. Das gesamte Gebäude ist aus Holz, von den Balken, jedes Schindel bis hin zu den Nägeln. Die schönen geschnitzten Dachgiebeln mit den Drachenköpfen – übrigens, die Drachen sollten das Böse von der Kirche abhalten. Ein Wahnsinn, was die Handwerker leisteten und vollbrachten, denn Maschinen hat es zur damaligen Zeit nicht gegeben! Wir können uns nur schwer loseisen, auch nachdem wir schon unzählige Fotos gemacht haben.
Ein kleines Stück der Fahrtstrecke müssen wir wieder zurückfahren und am Beginn des Lærdals erwartet uns der 24,5 km lange Tunnel nach Aurland – der längste Tunnel der Welt! Er ist genauso finster wie all die anderen, nur an vier Teilabschnitten hat man größere Ausbuchtungen gebaut, die schon von weitem durch ihre blaue Beleuchtung auf sich aufmerksam machen. Bei dem Gedanken eine Panne zu haben, macht sich ein ungutes Gefühl und Platzangst breit. Verschlimmert wird die ganze Situation noch, weil eine Fahrgeschwindigkeit von nur 70 km/h erlaubt ist. Dadurch dauert die Fahrt noch länger!
Auf dem Weg nach Undredal zur kleinsten Stabkirche Skandinaviens werden wir von hunderten Schafen und Ziegen aufgehalten, die gerade auf dem Weg nach Hause sind. Weil sich die Vierbeiner trotz des Drängelns von hinten so viel Zeit lassen, verpassen wir um nur zwanzig Minuten die letzte Führung durch das Innere der Kirche. Die weiße Holzkirche mit ihren vierzig Sitzplätzen wurde 1147 gebaut und heute noch werden Gottesdienste abgehalten. Leider können wir sie nur von außen mit einem Blick durch die Fenster betrachten.
Nicht weit von Flåm entfernt schlagen wir unser Nachtlager auf. Der kleine Campingplatz ist umrandet von Bergen mit prächtigen Wasserfällen. Die Abendsonne lässt das Gestein in schönem Gold erstrahlen, die Berge wirken richtig dreidimensional. In dieser romantischen Umgebung genießen wir unser Abendessen, doch noch bevor wir den Tisch abräumen, beginnt es zu nieseln. So müssen wir schon nach 21:30 Uhr ins Zelt klettern.