Kurz vor Mitternacht beginnt es in Strömen zu gießen, aber das Prasseln des Regens schläfert uns wieder ein. Um 07:00 Uhr schrecken wir hoch, weil eine Katze – wahrscheinlich die von gestern – auf dem Zelt herumklettert. Da es nur noch leicht nieselt, packen wir im Eiltempo zusammen, frühstücken provisorisch und fahren auch schon los – der Sonne entgegen!
Die Wolken hängen bis ins Tal, aber schon nach kurzer Zeit zeigen sich erste kleine blaue Flecken am Horizont und die Sonne blinzelt ein wenig durch. Unsere Stimmung steigt, denn die Reise führt uns vorbei an wunderschönen färbigen Blumenwiesen. Gelber Hahnenfuß, weiße Margariten und Pusteblumen, lila Glockenblumen und irgendwelche rosafärbigen Blumen ringen um unsere Aufmerksamkeit.
Schon nach einer halben Stunden überqueren wir problemlos am Finstermünzpass die Grenze in die Schweiz. Es begleitet uns auch hier eine herrliche Landschaft mit kleinen pittoresken Orten. Das Panorama mit den schneebedeckten Bergen und bunten Wiesen bleibt uns bis ins Engadin erhalten.
Unser erstes Ziel ist Ardez mit seinen ca. 500 Einwohnern. Der unter Heimatschutz stehende Ort zeigt entlang der Hauptstraße die typischen bemalten Häuser der Unterengadiner Region mit reizvollen Sgraffiti. Eine meisterliche Arbeit zeigt vor allem das berühmte Clalgüna-Haus. Der traditionelle Engadiner Haustyp vereinigt seit dem 14. Jhdt. Haus und Stall unter einem Dach. Der „Suler“ (Hausgang) unter dem Rundbogentor dient hier als Durchfahrt in den „Tablà“ (Tenne) wie auch als Vorraum der Wohnräume, mit der „Stüva“(Stube, Wohnzimmer), dem „Chadafö“ (Küche) und der „Chaminada“ (Speisekammer). Über den beiden letzteren befinden sich die „Chombra“ (Schlafräume), welche meist über eine Ofentreppe von der Stube aus zu erreichen sind. Außerdem gibt es eine Winde und weitere „Giodens“ oder „Gebens“ (Kammern) für die Jungmannschaft. Zuweilen findet man hier oben auch eine schön getäfelte obere Stube. Die äußere Formgestaltung wird durch den mörtelfarbenen Mauerkubus mit eingeschrägten Fensteröffnungen sowie durch das große Haustor geprägt. Faszinierend sind die vielfältigen dekorativen Fassadenelemente, deren Sgraffito- Verzierungen deutlich Einfluss des nachbarlichen Tirol erkennen lassen. Sie spiegeln alle Stilepochen von der Gotik bis zum Rokoko und zum Neoklassizismus sowie Strömungen der naiven Malerei. Zudem sind die Häuser mit den charakteristischen Erkern, kunstvollen Fenstergittern und Wappentieren geschmückt.
Es herrscht hier eine Stimmung wie in einem Heidi- Film. Hausfrauen kehren die rumpelige Straße aus grobem Kopfsteinpflaster, aus der Kirche ertönt Orgelmusik und in der Ferne hört man das Gemecker und Geläute einer Ziegenherde. Wir schlendern gemütlich durch die schmalen Gassen und bewundern die malerischen Häuser mit ihrem schönen Blumenschmuck und den plätschernden Brunnen. Selbst im kleinsten Erker steht ein Blümchen und alles ist ordentlich und sauber. Wir sind total verzaubert von der schnuckeligen Kirche mit der primitiven Einrichtung. Wie bestellt untermalt der Organist unser Staunen mit Kirchenklängen. Es scheint als wäre hier die Zeit einfach stehengeblieben. Danach spazieren wir noch zur nahegelegen Burgruine, von wo man eine wunderschöne Aussicht auf den gesamten Ort hat, der eingebettet in Wiesen und umrandet von gewaltigen Gebirgsmassiven unter uns liegt. Wir genießen die ersten Sonnenstrahlen und können uns nur sehr schwer loseisen.
Nicht weit von Ardez entfernt liegt das nicht weniger hübsche Dörfchen Guarda. Schmale Serpentinen führen in den 1.653 m hoch gelegenen Ortskern. Wir bleiben aber ein Stück davor auf einem Parkplatz stehen und „erklimmen“ das letzte Stück zu Fuß. Guarda erhielt 1975 einen Preis für seine harmonische bauliche Struktur. Auch hier stehen viele traditionelle Engadiner Häuser, aber man merkt, dass der Tourismus schon vermehrt Einzug gehalten hat. Das Ortsbild wird beherrscht von Hotels, Pensionen, Restaurants und Souvenirshops. Aber der viele schöne Blumenschmuck erregt noch größere Aufmerksamkeit.
Als wir dann noch von einer Horde Katzen „überfallen“ werden, haben wir kaum mehr Augen für den Ort. Sie schmeicheln um unsere Füße und lassen sich von uns streicheln. Leider setzt der Nieselregen wieder ein und wir gehen zu unserem Auto zurück.
Wir zweigen bei Susch auf die 27 km lange Flüelapaß-Straße ab. Sie wurde 1867 eröffnet, hat eine Breite zwischen 5,5 und 7 Meter und Steigungen bis zu 10%. Im Winter ist sie durchschnittlich an 40 Tagen wegen Lawinengefahr gesperrt und irgendwie haben wir das Gefühl, als stünden wir in der falschen Jahreszeit. Es ist Mittag und das Thermometer in unserem Auto zeigt 12° an. Der Wind bläst aus vollen Rohren und soweit das Auge reicht Schnee. Teilweise wurde die Straße mit Schneefräsen wieder freigelegt. Da stehen wir nun auf 2.383 m Höhe mit unseren Sommerhosen und wissen nicht, wie uns geschieht! Vom vielen Staunen übersehen wir beinahe die Gämse, die neben dem Straßenrand steht. Als wir kurz anhalten pirscht sie über die Schneefelder davon. Auch wir machen uns wieder auf den Weg Richtung Süden. Temperaturmäßig bekommen wir es heute heiß und kalt, denn als wir durch Davos fahren, hat es nur mehr 7°. Nicht mal fünfzig Kilometer weiter bei Tiefencastel und Thusis steigt das Thermometer wieder bis auf 17° und die Sonne kehrt langsam zurück. Obwohl die Straße hier sehr kurvig ist, genießen wir sie sehr, denn landschaftlich wird uns wieder das volle Programm geboten.
Bei Rongellen erreichen wir die berühmte Via Mala Schlucht, eine von 500 Meter hohen Kalkfelsen gebildete großartige Klamm des Hinterrheins. Der besonders wilde unterste Teil – das sogenannte Loch – ist erst seit dem Straßenbau 1822 passierbar. Die heutige Straße führt zunächst durch einen kurzen Tunnel, an dessen Ende man direkt auf einen Parkplatz und einen Kiosk trifft. An dieser Stelle kann man für ein paar Franken Eintritt viele, viele Stufen tief in die Schlucht hinabsteigen und das Wasserspektakel von der Nähe betrachten. Da wir aber in den Jahren davor jedes Mal die sportliche Herausforderung angenommen hatten, belassen wir es diesmal dabei, die 6 km lange Schlucht nur von oben zu bestaunen.
Das nächste Highlight unserer Reise ist die Fahrt über den Passo del San Bernardino. In scharfen 37 Kehren steigt die 42 Kilometer lange Straße bis auf 2.065 m Höhe an. Die maximale Steigung beträgt 11% und die Fahrbahnbreite variiert zwischen 4 und 7 Metern. Auf der Passhöhe liegt der Moèsola-See mit einer kleinen Felsinsel. Im Juni 2001, als wir den Pass das erste Mal fuhren, erlebten wir auch hier das wahre Schneeparadies. Meterhohe Schneeberge neben der Straße, dichter Nebel und wahre Flüsse auf der Straße malten damals das Bild. Aber diesmal erinnert nur die Temperatur (3°) an die Höhe. Wir sind total verzaubert von der schönen Bergvegetation. Große Flächen von Bergprimmeln, Krokussen und Bergenzianen wechseln sich ab.
Wo man auch hinschaut, Wasserfälle über Wasserfälle und ein Panorama wie im Bilderbuch! Auch die Sonne gewinnt langsam an Kraft und kämpft mit den letzten Schneeflächen.
Ohne jeglichen Stress setzten wir die Fahrt über Bellinzona bis nach Locarno fort, wo wir gegen 17:00 Uhr eintreffen. Die Thermometer ist bis auf 29° angestiegen und ebenso der Druck in unseren Köpfen, denn die vielen Temperaturschwankungen machen sich mittlerweile schon stark bemerkbar. Da Sabine und Ammanuel noch unterwegs sind, beschlagnahmen wir ihren Garten und machen ein kleines Nickerchen. Plötzlich steht der Kleine im Garten und guckt uns von oben bis unten an, ohne ein Wort zu sagen. Wir wissen auch nicht so recht, ob wir deutsch mit ihm sprechen können oder ob er nur italienisch versteht. Da kommt die Rettung: Sabine! Es dauert nicht lange und das Eis ist getaut und Ammanuel nimmt uns voll in Beschlag. Stundenlang spielen wir mit ihm erst Fußball und dann noch mit den High-Wheel-Cars.
Todmüde fallen wir gegen 23:00 Uhr ins unsere Schlafsäcke.