Sieben kurvige Tunnel und fünf hohe Brücken führen in das bekannteste Tal des Tessins, das Valle Verzasca: 29 Kilometer Schönheit der Natur! Und von diesen 29 erwandern wir heute fast die Hälfte.
Wir fahren mit dem Auto erst bis Vogorno. Hier werden die Wassermengen der Verzasca durch eine gewaltige Staumauer gebändigt. Berühmtheit erlangte sie durch eine Schlüsselszene des James Bond Films Golden Eye. La Selvatica, wie sie genannt wird, ist mit ihrer Höhe von 220 Metern und einer Länge von 380 Metern die größte in ganz Europa. Wir sind tief beeindruckt von diesen enormen Größen und ich traue mich kaum nach unten zu schauen. Unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die da freiwillig hinunterspringen, denn hier oben gibt es einen Bungeejumping-Turm.
Der erste, der am Gummiseil von der Verzasca-Staumauer sprang, war der Stuntman von James-Bond-Darsteller Pierce Brosnan. Für den Film „Golden eye“ war dies nur eine von vielen spektakulären Szenen, für das Verzascatal aber war es der Start zu einer neuen Touristeninvasion.
Wir fahren weiter nach Lavertezzo. Berühmt ist der ehemalige Gerichtsort mit noch 600 Einwohnern für seine Badestellen und die mittelalterliche Doppelbogenbrücke Ponte dei Salti. Aber beides wäre längst nicht so aufregend, wenn das Verzascawasser hier nicht so besonders smaragdgrün schimmern würde. Die Farbe kommt vom Serizitgneis, der im Ort noch immer abgebaut wird. Das grünlich glänzende Gestein verleiht dem Wasser der Verzasca diesen verzaubernden Schimmer, der im Kontrast zu den grauen, seltsam rund geschliffenen Felsbrocken besonders beeindruckend wirkt. Aber unterirdische Strudel machen das Wasser an dieser Brücke sehr gefährlich.
Schon im Herbst 2001 hat uns diese prächtige Steinbrücke fasziniert und wir haben Stunden dort verbracht. Diesmal aber haben wir leider nicht so viel Zeit, denn wir wollen noch eine Wanderung unternehmen. Außerdem kommen fast zeitgleich mit uns zwei Busladungen Touristen. Wie bei einer Völkerwanderung spazieren sie über die Brücke und belagern die Steine. So machen wir noch einen Blick in die Kirche des Dorfes und fahren weiter bis nach Sonogno.
Das ist der letzte bewohnte Ort des Verzascatales. Man meint, alle Autofahrer düsen die 29 km nur herauf, um hier Rustici zu fotografieren. Unmengen von Bussen sammeln sich auf den Parkplätzen vor dem Dorf, in das Motorisierte zum Glück nur mit Sondergenehmigung kommen. Tatsächlich ist Sonogno mit kaum hundert ständigen Einwohnern auf fast 1.000 Meter Höhe ein Schmuckstück Tessiner Baukunst. Der mittelalterliche Campanile überragt die schmucken Natursteinhäuser, die auch hier – edel renoviert und herausgeputzt – größtenteils als Zweitwohnsitz genutzt werden. Aber das Ganze so hübsch, so geschickt gemacht, dass man die Erneuerung erst auf den zweiten Blick wahrnimmt. Das Ortsbild scheint unberührt und wohlerhalten.
Hinter der Kirche Santa Maria di Loretto ist der Startpunkt unserer Wanderung. Kurz danach überqueren wir eine moderne Brücke und nach einem kurzen Anstieg führt der Weg einige Kilometer direkt entlang der Verzasca. Das Rauschen des Wassers, die Blütenpracht des gelben Ginsters, rosa Steinnelken und lila Distelblumen, ein blauer Himmel mit Schäfchenwolken und angenehme Temperaturen (ca. 26°), was will man mehr! Es macht uns richtig Spaß in der Natur herumzulaufen. Außerdem schwirren viele schöne Schmetterlinge vor uns herum. Es ist fast immer relativ flach zu gehen, sodass wir ohne Anstrengung erst das kleine Örtchen Frasco und dann das verlassene Dorf Cordac erreichen.
Ein Bankerl auf einer Anhöhe lädt uns dann zu einer kurzen Rast ein. Wir genießen unsere Jause, während uns ein prächtiger Ausblick auf die Verzasca geboten wird. Drei Paddler sind auf dem Wasser unterwegs und kämpfen sich langsam flussabwärts.
Im Val Motta wandern wir an einem prächtigen Wasserfall vorbei. Mittlerweile hat aber die Wolkendecke zugemacht und ein leichtes Lüftchen weht uns um die Ohren. Daher legen wir einen schnelleren Gang ein und lassen, als wir Brione erreichen, den Ort links liegen. Wir überqueren eine Straße und kommen zu einer Bushaltestelle. Da das Nieseln in einen Sprühregen übergegangen ist, überlegen wir, ob wir nicht mit dem Bus zurückfahren sollen. Eine Wartezeit von mehr als einer Stunde beendet dieses Thema aber wieder schnell.
Der Wanderweg führt hier durch Wälder, die den Regen größtenteils abfangen. Es ist schade, dass wir die Wanderung nicht mehr so genießen können. Im Laufschritt erreichen wir die Ortschaft Ganne und ab dort wird es wieder ein wenig lustiger. 1995 haben einheimische, deutsche und italienische Künstler rechts und links des Weges im Rahmen eines Wettbewerbes Kunstobjekte aus Holz, Plastik oder Metall geschaffen. Die Witterung hat im Laufe der Zeit zwar einige davon verunstaltet oder zerstört, aber es präsentieren sich doch einige lustige Werke.
Da grinst uns eine Katze an, die aus einem Stein gemeißelt wurde. Ein Stück weiter hat ein Künstler aus alten Fenstern und Paletten hohe „Häuser“ gebaut. An einer Stelle führt der Wanderweg durch einen Wasserfall und auf einem Stein mitten im Wasser wurde ein riesiges Metallnest mit Plastikeiern drin angebracht.
Geschafft und feucht bis auf die Knochen erreichen wir nach fünf Stunden Wanderung die Ponte dei Salti in Lavertezzo. Wir spüren die 13km ordentlich in den Füssen, sodass uns das Laufen schon schwerfällt. Zu allem Überdruss versäumen wir den Bus nur um fünf Minuten. Wir können ihm von der Anhöhe aus nur noch nachwinken. Um die Wartezeit ein wenig zu überbrücken (auch als Belohnung für den langen Marsch) kehren wir in das Grotto direkt oberhalb der Brücke ein. Für ein Seiterl Bier und 4 cl Orangensaft löhnen wir dann 6Franken (ca. 4 Euro). Doch wir genießen das kühle Nass in vollen Zügen.
Während der Busfahrt schüttet es in Strömen. Als wir wieder in Sonogno ankommen, hat sich der Regen wieder beruhigt. Gegen 17:00 Uhr erreichen wir unser Rustico. Mit Freude stellen wir fest, dass Frau Leutwiler unser Wäsche, die wir in der Früh mit viel Mühe in Handarbeit gewaschen und zum Trocknen in die Sonne gehängt haben, mit einem Plastiktischtuch abgedeckt hat. Vielen Dank!